Warum chaotische Kristalle Wunderwerkstoffe der Zukunft sind

2022-10-02 11:18:36 By : Mr. Shangguo Ma

Kristalle aus wild gemischten Zutaten – sogenannte Hochentropie-Materialien – könnten drastische Fortschritte etwa bei Katalysatoren bringen.

Chaos im Kristall: Michael Stuer und Amy Knorpp mit dem Modell eines "chaotischen" Kristalls mit fünf verschiedenen Komponenten. (Bild: Empa)

Hochentropie-Materialien ziehen derzeit wachsendes wissenschaftliches Interesse auf sich. Ihr Vorteil: Sie sind bei extrem hohen Temperaturen besonders stabil, könnten daher etwa für chemische Produktionsprozesse eingesetzt werden. Ein Team der Schweizer Forschunganstalt Empa produziert und erforscht diese geheimnisvollen keramischen Materialien, die überhaupt erst seit 2015 bekannt sind. Aus dieser Forschung könnten zukünftige Ausgangsmaterialien für Energiespeicher, Katalysatoren oder Supraleiter mit bislang ungekannten Eigenschaften entstehen.

Die Natur strebt nach Chaos. Wissenschaftler haben für diesen Effekt den Begriff der Entropie geprägt – ein Maß für die Unordnung. In den meisten Fällen gilt: Nimmt die Unordnung zu, dann laufen Prozesse spontan ab, und der Rückweg in die zuvor herrschende Ordnung ist versperrt. Kristalle gelten als das schiere Gegenteil von Unordnung. In einer Kristallstruktur sind alle Gitterbausteine sauber und auf kleinstmöglichem Volumen dicht nebeneinander sortiert. Umso bizarrer wirkt die Idee, man könne Kristalle durch die Kraft der Entropie stabilisieren und so eine neue Materialklasse erschaffen. Doch genau das passiert bei Hochentropie-Materialien.

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Entropie-stabilisierte Materialien sind ein noch junges Forschungsgebiet. Den Anfang machten 2004 sogenannte Hochentropie-Legierungen, also Gemische von fünf oder mehr Elementen, die sich untereinander vermengen lassen. Wenn die Mischung gelingt und alle Elemente homogen in der Legierung verteilt sind, zeigen sich bisweilen besondere Eigenschaften, die nicht von den einzelnen Zutaten herrühren, sondern von deren Mixtur. Die Wissenschaftler nennen dies "Cocktail-Effekte".

Hochentropie-Legierungen (HEL), die seit 2004 erforscht werden, bestehen aus mindestens fünf verschiedenen Bestandteilen in jeweils hohen Anteilen. Das können beispielsweise Aluminium, Titan, Eisen, Chrom oder Nickel sein, aber auch andere Elemente. "Einige dieser Legierungen, die aus Elementen wie Aluminium, Titan, Niob, Hafnium und Vanadium bestehen, eignen sich als Hochtemperaturwerkstoffe für Turbinen", sagt Dr. Jörg Kaspar, der am Fraunhofer-Institut für Werkstoff- und Strahltechnik IWS die Forschungsgruppe für Werkstoff- und Schadensanalytik leitet. "Damit können effizientere Kraftwerke und Flugzeuge konstruiert werden, die weniger Gas beziehungsweise Treibstoff verbrauchen. Andere Verbindungen empfehlen sich mehr für den Leichtbau." Keramische HEL-Beschichtungen würden außerdem die gewaltigen Blechumformwerkzeuge in der Automobilindustrie verschleiß- und hitzebeständiger machen.

"Hochentropielegierungen sind in sehr vielen Varianten denkbar", erläutert Kaspar. "Wer sie alle einzeln durchprobieren wollte, würde einige tausend Jahre dafür brauchen." Daher haben die Dresdner Fraunhofer-Analytiker Methoden weiterentwickelt, um Proben sehr rasch herzustellen und automatisiert auf Härte, Festigkeit und andere Eigenschaften zu testen. Möglich machen dies additive Fertigungsanlagen, die ihre HEL-Zutaten aus mehreren Behältern mit Eisen-, Chrom-, Nickel- und anderen elementaren Pulvern fördern. Ein Laser schmilzt diese Stoffe dann auf.

Seit 2015 ist bekannt, dass sich sogar keramische Kristalle durch die "Kraft der Unordnung" stabilisieren lassen: Es passen auch übergroße und zu kleine Bausteine in den Kristall, die ihn im Normalfall zerstören würden. So gelang es dem Empa-Team etwa, bereits neun verschiedene Atome in einen Kristall einsetzen. Der Vorteil: Selbst, wenn solche Kristalle hohen Temperaturen ausgesetzt sind, bleiben sie stabil – denn eine "Umsortierung" würde zu größerer Ordnung führen. Das natürliche Streben nach maximaler Unordnung stabilisiert also die ungewöhnliche Kristallstruktur – und damit das gesamte Material – auch unter Extrembedingungen.

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"Bei bis zu vier Komponenten im Kristall ist alles noch normal, ab fünf Komponenten ändert sich die Welt", erläutert Michael Stuer, Forscher in der Empa-Abteilung High Performance Ceramics. "Diese Materialklasse eröffnet uns eine Vielzahl neuer Chancen", sagt Stuer. "Wir können hochaktive Kristalloberflächen schaffen, die es vorher noch nie gab, und nach interessanten Cocktail-Effekten suchen."

Gemeinsam mit seiner Kollegin Amy Knorpp macht sich Stuer nun auf den Weg ins Unbekannte. Die beiden sind Spezialisten für die Herstellung von feinem Kristallpulver, und sie haben an der Empa Kolleginnen und Kollegen für Röntgen- und Oberflächenanalytik, um die hergestellten Proben genauestens zu charakterisieren.

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Stuer und Knorpp konzentrieren sich dabei auf katalytisch aktive Materialien. Bei der chemischen Reaktion, für die sie sich interessieren, geht es um die Verbindung von CO2 und Wasserstoff zu Methan, also synthetischem, klimaneutralem Erdgas. Aus einem Treibhausgas soll also ein nachhaltiger, speicherbarer Brennstoff werden.

"Wir wissen, dass CO2-Moleküle auf bestimmten Oberflächen besonders gut adsorbiert werden und die gewünschte Reaktion dann leichter und schneller abläuft", sagt Amy Knorpp. "Nun versuchen wir entropische Kristalle herzustellen, an deren Oberflächen solche hochaktiven Bereiche existieren."

Um rascher voranzukommen, haben die Forscher mithilfe der Empa-Werkstatt ein spezielles Synthesegerät gebaut, in dem vielerlei chemische Mixturen wie am Fließband nacheinander getestet werden können. Im "Tubular Flow Reactor" laufen kleine Bläschen durch einen Schlauch, in denen die jeweilige Reaktion abläuft. Am Ende werden die Bläschen entleert, und das darin enthaltene Pulver kann weiterverarbeitet werden.

"Der 'Tubular Flow Reactor' hat einen riesigen Vorteil für uns: Alle Bläschen sind gleich groß, darum haben wir für unsere Synthesen immer ideale und gleichbleibende Randbedingungen", erläutert Stuer.

Aus dem Vorprodukt-Pulver werden durch verschiedene Trocknungsverfahren feine Kristalle der gewünschten Größe und Form. Hier kommt die Expertise der Keramikspezialisten erneut zum Tragen. "Kristalle sind wie Häuser, sie haben geschlossene Außenwände und welche mit Fenstern", erläutert Michael Stuer. Wenn man eine hohe Affinität mit dem Nachbarkristall anstrebe, müsse man dafür sorgen, dass die Fensterseite zum Nachbarn schaut, sonst wird nichts passieren.

Die Forschenden wollen auf diese Weise ein großes Problem überwinden: Übliche Katalysatoren zur Methanisierung von CO2 etwa aus Biogas werden mit der Zeit schwächer. Das liegt daran, dass Schwefel-Anteile im Biogas die Oberfläche verschmutzen oder dass sich bei hohen Temperaturen die Katalysator-Oberflächen chemisch umwandeln.

Das Youtube-Video zeigt Michel Stuer und Amy Knorpp bei ihrer Forschungsarbeit.

Ist erst einmal der Weg gefunden, um diese Probleme zu lösen, dann sind die Empa-Kristallspezialisten bereit für weitere Herausforderungen: etwa Hochleistungsbatterien, supraleitende Keramik oder Katalysatoren für Auto-Abgase und andere chemische Produktionsprozesse. "Es ist ein dunkler Wald, in den wir da hineinlaufen", sagt Amy Knorpp. "Aber wir haben eine Vermutung, in welcher Richtung etwas zu finden ist. Irgendwo da draußen, so denken wir, ist eine Schatztruhe voller Erkenntnisse verborgen.»

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